TOURISMUS - CHANCE oder FALLE 1er Beirag zur Diskussion


[ Reisen Cabo Verde - Kapverdische Inseln ]


Geschrieben von LuigiFogo am 20. August 2001 02:51:36:

Reise in die Vergnügungsperipherie

Die Tourismuskritik und die Dritte Welt

von Christian Stock

Die Tourismuskritik und insbesondere die Debatte über den Tourismus in Dritte-Welt-Länder stagniert seit Anfang der 90er Jahre. Die gesellschaftstheoretische Reflexion über die Motive und Auswirkungen des Reisens ist pragmatischen Ansätzen für umwelt- und sozialverträglichen Tourismus gewichen. Doch durch den Verzicht auf Grundsatzdiskussionen werden die Fehlannahmen der früheren Tourismuskritik fortgeschrieben.

Im deutschsprachigen Raum existiert seit der Selbstauflösung der Arbeitsgemeinschaft »Tourismus mit Einsicht«, zu der sich Ende der 80er Jahre zahlreiche Dritte-Welt- und Umweltorganisationen zusammengeschlossen hatten, kein verbindlicher, über Einzelkampagnen hinausreichender Verbund tourismuskritischer AktivistInnen mehr. Die organisatorische Schwäche geht einher mit einer tiefen inhaltlichen Verunsicherung der tourismuskritischen Akteure. Waren es früher nur tourismusbefürwortende, der Industrie nahe stehende WissenschaftlerInnen und PublizistInnen wie z.B. der Freizeitforscher H.W. Opaschowski, die das »Elend der Tourismuskritik« geißelten, so kommen ähnliche Vorwürfe in jüngerer Zeit aus dem (einstmals) tourismuskritischen Lager selbst. Beispielhaft für diese Entwicklung steht die frühere Galionsfigur der deutschen Tourismuskritik, die Journalistin Ludmilla Tüting. Ähnlich wie andere Exponenten der 68er Generation, die von den Überzeugungen vergangener Tage nichts mehr wissen wollen, beschwert sie sich über die »ideologischen Scheuklappen« der »Fundis« unter den TourismuskritikerInnen, die »standhaft auf ihren alten Positionen beharren«.1 Den »verhängnisvollen Hang zu Grundsatzdiskussion« hält sie für schädlich, weswegen sie für die am Machbaren orientierte Entwicklung eines »integrativen Tourismus« plädiert.

Gegen den allgemeinen Trend soll hier die These vertreten werden, dass der zunehmende Verzicht auf die gesellschaftstheoretische Reflexion des (Fern-)Tourismus und die fast ausschließlich pragmatische Orientierung die Tourismuskritik überhaupt erst in die Position der Schwäche bringt, aus der sie heute agiert. Denn auch die neueren tourismuskritischen Ansätze basieren auf den früheren theoretischen Prämissen – allerdings ohne diese offen zu legen und damit der Diskussion preiszugeben. So schreibt der heutige tourismuskritische Diskurs zahlreiche Fehlannahmen und Fragwürdigkeiten der früheren Tourismuskritik fort, anstatt sie zu kritisieren und zu revidieren.

Vom Kolonialismus zum Tourismus
Die Entstehung der modernen tourismuskritischen Debatte ist eng mit der starken Zunahme des Reisens seit Ende der 50er Jahre sowie mit der Gesellschaftskritik der »68er«-Bewegung verknüpft. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Tourismus in die Dritte Welt ab Anfang der 70er hat aber noch eine weitere Ursache: Sie ist als Reaktion auf die modernisierungstheoretische Befürwortung des Ferntourismus zu verstehen. Diese versuchte mit plumpen Thesen à la »Tourismus bewirkt die Modernisierung bereister traditioneller Gesellschaften« die positiven ökonomischen und soziokulturellen Effekte des Tourismus herauszustreichen und charakterisierte ihn gar als »besonders elegante Form der Entwicklungshilfe«.

Willkommenes Rüstzeug gegen die Modernisierungstheorie waren die großteils marxistisch geprägten Dependenz- bzw. Abhängigkeitstheorien, die die »Unterentwicklung« der Dritten Welt auf den Kolonialismus und die Abhängigkeit von den Industrieländern zurückführten. Die dependenztheoretisch orientierte Tourismuskritik hob dementsprechend darauf ab, dass Dritte-Welt-Tourismus eine spezifische Form des (Neo-)Kolonialismus sei und die bereisten Länder und Gesellschaften in die Abhängigkeit von den Entsendeländern der TouristInnen zwinge. Die Dritte Welt werde zur »Vergnügungsperipherie«2 der Industrieländer degradiert, weshalb der Ferntourismus erheblich problematischer als der Tourismus innerhalb der Industrieländer sei. In der Dritten Welt, so wurde argumentiert, verstärke der Tourismus die strukturelle Heterogenität der besuchten unterentwickelten Länder: Der ‚moderne’ Tourismussektor sei abgekoppelt von ‚traditionellen’ Sektoren wie z.B. der lokalen Landwirtschaft und verhindere deren Entwicklung auf Grund der Konkurrenz um Produktionsfaktoren wie Boden, Wasser, Arbeit oder Kapital.

Scheitern der Großen Theorie?
Besondere Aufmerksamkeit wurde den sozioökonomischen Auswirkungen des Tourismus geschenkt. Unter den vorherrschenden kapitalistischen Bedingungen bei der Inwertsetzung peripherer Regionen führe der Tourismus zu Ausbeutung durch Reisekonzerne, aber auch durch Einzelreisende, die sich das niedrige Lohnniveau und ungerechte Währungsverhältnisse zu Nutze machten. Auf diese Weise reproduziere der Tourismus das koloniale Herrscher-Diener-Verhältnis und das Unterlegenheitsgefühl der Bereisten und verstärke rassistische Wahrnehmungen der bereisten Gesellschaften. Da die Dominanzverhältnisse des Nord-Süd-Konfliktes auch bei individuellen, persönlichen Begegnungen zwischen Reisenden und ‚Bereisten’ ungebrochen weiter existierten, wurde die vorherrschende Form des Tourismus als spezifische Form von struktureller Gewalt angesehen.

Ähnlich wie der Mainstream der allgemeinen entwicklungspolitischen Debatte, der das »Ende der Dritten Welt« und das »Scheitern der Großen Theorie« zu erkennen glaubte, wandte sich auch die (nördliche) Tourismuskritik ab Anfang der 90er Jahre mehrheitlich vom dependenztheoretischen Analyseinstrumentarium ab. So schematisch viele TourismuskritikerInnen ihr Thema bisweilen mit den dependenztheoretischen Theoriesätzen durchdekliniert hatten, so entschieden verdammten sie diese nun als ideologischen Ballast. Doch damit entledigte man sich nicht nur der falschen und überflüssigen Bestandteile dependenztheoretisch orientierter Tourismuskritik, sondern auch der sinnvollen.

Worin lagen die Stärken dependenztheoretischer Tourismuskritik? An erster Stelle ist ihr erweiterter Blickwinkel zu nennen, der die touristische Bewegung nicht isoliert betrachtet, sondern im Rahmen umfassender Gesellschafts- und Kapitalismuskritik. Denn die Grundzüge des modernen Tourismus wie der Zwang zur profitträchtigen Inwertsetzung von Natur und Kultur, ihre Degradierung zur Ware, die Ökonomisierung sozialer Beziehungen oder die gnadenlose Konkurrenz auf dem (Welt-)Markt zählen zu den Funktionsprinzipien des Kapitalismus und umfassen alle gesellschaftlichen Bereiche. Vor diesem Hintergrund vermag dependenztheoretische Tourismuskritik individuelle Reisemotive und das jeweilige Reiseverhalten an die strukturellen Bedingungen des Tourismus anzubinden. Ohne damit jede(n) Reisende(n) von seiner persönlichen Verantwortung freizusprechen, wird so die Überbetonung von individuellen Verhaltensoptionen vermieden, wie sie z.B. im weit verbreiteten Glauben an die Qualifizierbarkeit von Reisenden zum Ausdruck kommt (als ob »falsches« Reiseverhalten nur ein Problem mangelnden Wissens und durch pädagogische Maßnahmen behebbar sei). Nicht zuletzt vermag dependenztheoretische Tourismuskritik, sexistische, rassistische und dominanzkulturelle Verhaltensweisen im Tourismus in einen größeren gesellschaftlichen Kontext zu stellen und beispielsweise Prostitutionstourismus als besondere Form geschlechtsspezifischer Ausbeutung zu analysieren.

Die Interpretation des modernen Tourismus auf der Folie einer materialistischen Kapitalismus- und Gesellschaftskritik birgt allerdings auch Gefahren, denn sie verleitet zu deterministischen Ableitungen, zu unzulässigen Pauschalisierungen und Verabsolutierungen. So neigt die linke Tourismuskritik seit ihrer Begründung durch H.M. Enzensberger dazu, die Fluchtmotivation für das Reisen, die aus den kapitalistischen Zwangsverhältnissen abgeleitet wird, überzubetonen. Die offensichtliche Lust am Reisen wird schlicht negiert, weshalb die »bürgerliche« Tourismusforschung – im deutschsprachigen Raum am prominentesten vertreten durch den Soziologen Christoph Hennig oder den Freizeitforscher Horst W. Opaschowski – großen Erfolg mit ihren Thesen vom emotionalen Gewinn durch Reisen hat. Gleichermaßen wird die Manipulationsthese überstrapaziert: Reisende werden als bloße Manipulierte gesehen, die den Werbeversprechungen der Tourismusindustrie auf den Leim gingen. Die durchaus vorhandenen Handlungsspielräume beim Reiseverhalten des Einzelnen werden weitgehend ausgeblendet, und das Individuelle geht im Strukturellen unter. Eine dialektische Sichtweise, die die individuell je verschiedene Mischung von »weg-von« und »hin-zu«-Reisemotiven zur Kenntnis nimmt und das Spannungsverhältnis von individueller Autonomie und strukturellen Zwängen thematisiert, bleibt die Ausnahme. Hinzu kommt, dass auch die materialistische Tourismuskritik den »Massentourismus« in fragwürdiger Weise problematisiert. Der Begriff der »Masse« wird von ihr ausnahmslos pejorativ verwendet – als ob die Tatsache, dass der Mensch in größerer Zahl existiert, bereits an sich ein Problem wäre. Damit begibt man sich in die Nachbarschaft zu der bürgerlich-aristokratischen Tourismuskritik, die dem Plebs jene (Reise-)Privilegien absprechen will, die man selbst in Anspruch nimmt.3

Ins Mark des Volkes
Doch nicht nur bei der Bewertung der TouristInnen und ihrer Beweggründe, sondern gerade bei der Einschätzung der bereisten Gesellschaften kommt der inhärente Determinismus dependenztheoretischer Tourismuskritik zum Tragen. Exogene Einflussfaktoren durch den Tourismus aus den Industrieländern werden systematisch überbewertet, während endogene, innergesellschaftliche Faktoren unterbewertet bleiben. Das Diktum des Dependenztheoretikers Werner Ruf – »Gerade in außereuropäischen Ländern leistet der Tourismus besonders schnell und besonders nachhaltig einen entscheidenden Beitrag zur Zerstörung traditioneller Wertsysteme und der vorhandenen Sozialsysteme«4 – wird bis heute dahingehend überstrapaziert, dass die vielschichtigen Gründe für den gesellschaftlichen Wandel in den bereisten Regionen ausgeblendet werden oder ihre Komplexität nicht erfasst wird.

Mythos der Überlegenheit
Dies hat zwei schwerwiegende Konsequenzen: Erstens werden die Einflüsse des Tourismus einseitig gedeutet bzw. ausschließlich negativ gewertet. Der Wertmaßstab bei der Beurteilung des Kulturwandels – wenn er überhaupt offen gelegt wird – besteht darin, den exogenen Einflüssen durch Tourismus als positives Gegenbild Tradition, Authentizität, Lokalität usw. gegenüberzustellen. Die beklagte »Zerrüttung« von Sozialstrukturen kann aber nicht allein auf touristischen Einfluss zurückgeführt werden. Er ist immer nur einer von vielen Faktoren; z.B. sind gesellschaftliche Veränderungen und Konflikte durch rückkehrende ArbeitsmigrantInnen in ihrer Bedeutung für sozialen Wandel oftmals höher einzuschätzen. Der Anklage, Sozialstrukturen würden zerstört, wohnt ein konservativer Kern inne, der traditionelle Verhältnisse idealisiert, gleich wie autoritär, repressiv oder patriarchal sie sein mögen. Bisweilen reicht dieser Konservatismus bis in völkisches Denken, wie folgende, einer tourismuskritischen Publikation entnommene Aussage über den Tourismus in Nepal belegt: »Die kulturellen Schäden, wie der Verlust der kulturellen Identität mit der damit verbundenen Entwicklung zum individuellen Materialismus ohne gemeinsames Verantwortungsbewusstsein, Zerfall der Sitten und Zerstörung der bisher ordnungsgebenden lokalen Strukturen, angefangen bei der Familie, gehen ins Mark des Volkes.«5 Hier schimmert zudem unübersehbar durch, dass fremde, »exotische« Kulturen als »Projektionsfläche der Zivilisationskritik«6 herhalten müssen und dadurch für die Bestätigung der eigenen Weltbilder funktionalisiert werden. Gegenüber solchen Interpretationen ist darauf zu beharren, dass sozialer Wandel durch Tourismus nicht an sich verdammenswert ist. Anliegen der Tourismuskritik kann eigentlich nur sein, herauszuarbeiten, welche neuen Abhängigkeiten und Machtverhältnisse der Tourismus schafft. Diese Trennschärfe fehlt jedoch vielen tourismuskritischen Publikationen.

Zweitens werden durch die Überbewertung exogener Einflüsse via Tourismus die Autonomie der bereisten Gesellschaften und ihre teilweise sehr erfolgreichen coping strategies gegenüber dem Tourismus negiert. Das reproduziert – wenn auch ungewollt – den Mythos der Überlegenheit der westlichen Zivilisation, die sich alles untertan macht und gegen die kein Widerstand möglich ist. Die BewohnerInnen von touristischen Regionen liefern sich keineswegs mit Haut und Haaren aus, sind keineswegs nur Objekte eines übermächtigen westlichen Kulturimperialismus, sondern verfügen über höchst unterschiedliche, sich außenstehenden Beobachtern kaum erschließende Verhaltensstrategien im Umgang mit Tourismus. Die Bandbreite reicht von selektiver, selbstbewusster Adaption an die touristischen Spielregeln bei gleichzeitiger ökonomischer, kultureller oder emotionaler Vorteilsmaximierung bis hin zu Belustigung, Ignoranz, Abgrenzung oder offener Ablehnung.

Die Tourismuskritik neigt demgegenüber dazu, den ‚Bereisten’ eine passive, aufnehmende Rolle zuzuschreiben. So fehlt z.B. in keiner tourismuskritischen Publikation der Hinweis auf die »Demonstrationseffekte« des Tourismus, der die »Einheimischen« dazu bringe, in Popmusik, Digitaluhren und anderen Attributen des westlichen way of life unwiderstehliche Identifikationsangebote zu sehen. Dass hingegen die Demonstrationseffekte teilweise auch auf Gegenseitigkeit beruhen, indem Touristen – sei’s durch asiatische Religionen, sei’s durch karibische Musikstile – durch die bereiste Gesellschaft beeinflusst werden, dass die ‚westliche’ Kultur, die auf die bereisten Gesellschaften einwirkt, ihrerseits so heterogen und vielschichtig ist, dass sich dieser Terminus eigentlich verbietet, dass es sich um dynamische Phänomene des Kulturwandels handelt, geht in dieser Interpretation verloren. Aus diesem Grund tut sich die Tourismuskritik so schwer, das Geflecht dominanzkultureller Machtbeziehungen in ihrer ganzen Ambivalenz und Komplexität zu erfassen.

Wohin die mechanistische, einseitige Sichtweise des Demonstrationseffektes führen kann, zeigt ein beliebig herausgegriffenes Beispiel: Der renommierte Tourismuskritiker U. Mäder verwendet in seinem Buch mit dem programmatischen Titel »Von der Freiheit zur Freizeit – vom Kolonialismus zum Tourismus« ein Foto, das eine – ihren Fotoapparat krampfhaft festhaltende – weiße Touristin inmitten einer Gruppe schwarzer Jugendlicher zeigt. Die Bildunterschrift lautet: »Touristen wecken in armen Gebieten Bedürfnisse, welche Einheimische mit legalen Mitteln kaum befriedigen können. Folge davon ist eine Zunahme von Kriminalität.« Was in wohlmeinender Absicht die Unerreichbarkeit westlichen Wohlstands in den bereisten Gesellschaften anklagen soll, gerät zum tendenziell rassistischen Stereotyp vom stehlenden Schwarzen.

Aus der Reduzierung der »Bereisten« auf einen Opferstatus resultiert auch der Paternalismus, der sich in den wohlmeinenden, aus dem Norden stammenden Konzepten einer »nachhaltigen Tourismusentwicklung« und des Ökotourismus fortschreibt. So maßen sich nicht wenige der TourismuskritikerInnen, die nun im Auftrag der Entwicklungszusammenarbeit Ökotourismus-Konzepte für Zielregionen im Süden erstellen, an, die Rolle des neutralen Moderators zwischen den Interessen der »Bereisten«, der TouristInnen und der Allgemeinheit (Umweltschutz) zu übernehmen. Die in diesen Plänen vorgetragene Forderung nach mehr »Partizipation der Betroffenen« ist zwiespältig, denn die Definitionsmacht darüber, was Partizipation ist, liegt eben nicht bei den Betroffenen. So werden längst vorhandene Beteiligungsmuster der Bevölkerungsgruppen in touristischen Regionen häufig verkannt, weil sie nicht in ‚westliche’ Wahrnehmungsraster passen, die stark von formalen und repräsentativen Verfahren geprägt sind.

Reiselust und -frust
Die skizzierten Fallstricke der Tourismuskritik – die keineswegs nur den Ferntourismus betreffen – führen zu offenen Fragen, die einer grundsätzlichen Klärung bedürfen. Da ist zunächst die Einschätzung des Phänomens »Reisen«. Selbst wenn man die von vielen Tourismusforschern vertretene Ansicht verneint, dass das Reisen auf einen ‚natürlichen’ Drang der Menschheit zurückgehe, kommt man nicht daran vorbei, dass das Reisen die Sehnsüchte der meisten Menschen nicht nur weckt, sondern zumindest parziell auch zu befriedigen weiß – und das auch in der (kultur-) industriellen Form des modernen Tourismus. Das konfliktive Verhältnis zwischen dem Bedürfnis nach ‚Reisen’ – oder weiter gefasst: Mobilität – und seiner Subsumierung unter die Imperative der kapitalistischen Warengesellschaft ist seitens der Tourismuskritik noch lange nicht geklärt. Es alleine mit der Flucht- und Manipulationsthese bestimmen zu wollen, führt in die Sackgasse der Eindimensionalität.

Ungeklärt ist auch das Verhältnis von radikaler Systemkritik und konkreten Verbesserungen im Tourismus. Die Vorwürfe seitens der radikalen Kritik, die meisten bisherigen Ansätze von sozial- und umweltverträglichem Tourismus generierten schlichtweg eine neue Marktnische für mittelständische Reiseunternehmen und stellten die globalen Ungleichheitsverhältnisse kaum in Frage, ist auf Grund der zahlreichen ernüchternden Erfahrungen kaum von der Hand zu weisen. Andererseits ist der alleinige Rückzug in Grundsatzkritik allzu bequem, weil er konkrete Verbesserungen auf St. Nimmerlein vertagt. Die Grenze zwischen faulem Kompromiss und Feigenblattfunktion auf der einen Seite und sinnvollen emanzipatorischen Ansätzen im Tourismus auf der anderen Seite auszutarieren, bleibt eine sich immer wieder neu stellende Herausforderung. Hat man sich für praktische Ansätze entschieden, stellt sich immer noch die Frage nach der richtigen Strategie. Sollen Veränderungen vor allem am »Massentourismus« ansetzen und z.B. politischer Druck auf die großen Reiseveranstalter ausgeübt werden? Oder setzt man vielmehr auf kleine alternative Projekte für verträglichen Tourismus und ihren Vorbildcharakter? Eng damit zusammen hängt die Frage, wie groß der individuelle Verhaltensspielraum der Akteure im Tourismus (Touristen, Anbieter, »Bereiste« etc.) im Vergleich zu den strukturellen Bedingungen ist und wie er ausgebaut werden kann.

Das apodiktische Urteil von Pascal – »Alles Unheil dieser Welt rührt daher, dass die Menschen nicht ruhig in ihrem Zimmer bleiben können« – mag so überzogen sein wie das Beharren auf bloße Verzichtsethik angesichts der Reiselust der Menschen unsinnig ist. Die Herstellung gesellschaftlicher Bedingungen, unter denen Reisen unproblematisch für alle Beteiligten werden, ist jedoch im Zeitalter des LastMinute-Schnäppchenpreis-Tourismus nötiger denn je.

Anmerkungen:

1 Tüting, Ludmilla (1998): Was ist aus der Tourismuskritik geworden? Presseinformation der Messe Berlin anlässlich der Internationalen Tourismusbörse ITB Berlin 1998

2 Scherrer, Christoph (1986): Dritte Welt-Tourismus, Entwicklungsstrategische und kulturelle Zusammenhänge, Berlin, S. 167. Weitere wichtige deutschsprachige Publikationen mit dependenztheoretischem Hintergrund sind u.a.: May, Silke (1985): Tourismus in der Dritten Welt, Von der Kritik zur Strategie, Frankfurt a.M. sowie: iz3w (informationszentrum 3.welt) (1986): Klar, schön war’s, aber..., Tourismus in die Dritte Welt, Freiburg

3 Gruppe neues reisen (1994): Massentourismus – Ein reizendes Thema, Schriften zur Tourismuskritik Bd. 23, St. Peter-Ording

4 zit. nach Scherrer 1986, a.a.O, S. 37

5 Hagen, Toni (1995), Brücken bauen zur Dritten Welt, Kultur und Tourismus aus entwicklungspolitischer Perspektive, in: Luger, Kurt/ Inmann, Karin (Hrsg.), Verreiste Berge, Kultur und Tourismus im Hochgebirge, Innsbruck, S. 271-285, hier: S. 272

6 Flitner, Michael/ Langlo, Peter/ Liebsch, Katharina (1997): Kultur kaputt, Variationen einer Denkfigur der Tourismuskritik, in: Voyage, Jahrbuch für Tourismusforschung, S. 86-97, hier: S. 90

Christian Stock ist Mitarbeiter des iz3w und Herausgeber des Buches "Trouble in Paradise. Tourismus in die Dritte Welt".

Christian Stock
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